Die aktuelle Debatte um die Reform von Hartz IV nimmt auch immer wieder die bestehende Sanktionspraxis in den Fokus. Wir kennen das ja aus allen Debatten, die damit zu tun haben. Kann sich noch jemand an die Studie erinnern, die das IAB vor einigen Jahren dazu veröffentlicht hat? Hintergrund: Die meisten Sanktionen werden eben auch für die Meldeversäumnisse ausgesprochen. Das Nichtwahrnehmen von Terminen kann schon beim ersten Mal sanktioniert werden. Es ging darum, dass vor allem diejenigen sanktioniert werden, die wenig Allgemeinbildung, schlechte schulische Qualifikation oder wenig oder keine berufliche Ausbildung hatten. Gerade in diesem Bereich der klassischen Unterschicht wird das formale Herangehen an Mitwirkungspflichten schon dadurch schwierig, weil viele eben durch das Wegbrechen der Tagesstruktur aufgrund jahrelanger Arbeitslosigkeit oder dem Fehlen einer effektiven Schriftkultur nicht in der Lage sind, diesen Anforderungen zu entsprechen: Briefe gehen verloren – entweder, weil die Briefkästen in den Wohnblöcken, in denen die Mieten noch gerade so von den JobCentern bezahlt werden, immer offen stehen – oder die Briefzustellung in diesen Vierteln nicht mehr ordnungsgemäß funktioniert. Wenn der Brief doch angekommen ist, dann wird er eben nicht in einem guten Zeitmanagement verarbeitet, sondern weggelegt, in der Hoffnung, dass die Erinnerung daran noch rechtzeitig kommt. Dies geht aber faktisch viel zu oft schief.
Aber das Problem liegt tiefer. Es beginnt damit, dass viele die Regeln nicht richtig und vollständig verstehen. Zudem gelingt es diesen Menschen schlechter, eine als unzumutbar empfundene Maßnahme abzulehnen – in dem einfach dazu argumentiert wird. Viele trauen sich nicht, ihre eigenen Berufswünsche zu artikulieren und sich argumentativ dafür einzusetzen. Stattdessen sagen sie nichts – und besuchen den zugewiesenen Kurs einfach nicht. Auch von den rechtlichen Möglichkeiten, Sanktionen zu vermeiden, machen sie kaum Gebrauch. Oft wissen sie gar nicht, dass sie Entscheidungen der Vermittler anfechten können.
Dazu kommt, dass die Fachkräfte aus Vermittlung und Fallmanagement immer häufiger eine Hochschulausbildung haben, was zu begrüßen ist. Aber damit geht auch einher, dass dieser neuen Generation von Akademikern die Lebenswelt der Unterschicht sehr fremd ist. Sie können sich nicht gut in deren Situation hineinversetzen.
In der angesprochenen Untersuchung ist noch etwas anderes herausgekommen: Die schon bestehenden negative Zuschreibungen etwa von Lehrern oder früheren Vermittlern über die Jahre verfestigen sich in den Akten. Dies begünstigt dann das Verhängen von Sanktionen. Ergebnis der Untersuchung: Sanktionen in der Grundsicherung reproduzieren soziale Ungleichheit. Die Empfehlung war: Berücksichtigung dieses Forschungsergebnisses und Entschärfung der Sanktionen.
Die Studie des IAB war aus dem Jahr 2016. Drei Jahre später gibt es noch keine nennenswerte Änderung, wie aktuelle Zahlen beweisen: so heisst es aus der Bundesagentur für Arbeit: „2017 mussten die Jobcenter [für die 4,36 Mio. Alg-II-EmpfängerInnen] bei 733800 Menschen deswegen die Regelleistung um zehn Prozent absenken.“ Und: „Die Sanktionsquote - also das Verhältnis von verhängten Sanktionen zu allen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten - lag unverändert bei 3,1 Prozent.“ Wenn ich das ausrechne, liege ich bei einer Quote von über 7 Prozent.
Kurzum: Die Menschen, die von Hartz IV leben müssen, sind nicht in der Lage, die komplexe Struktur zu verstehen. Die Vermittler verstehen nicht, wie die Menschen, die sie betreuen sollen, denken. Das wird weiter schief gehen.
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