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„Eine Minute Finsternis für immerwährende Helligkeit“

Eine Minute Finsternis für immerwaehrende Helligkeit - 1. Mai 1997 in der Tuerkei

In vielen Staaten der westlichen Welt wird der 1. Mai seit Jahrzehnten zumindest als Tag der Arbeiterbewegung „gefeiert“ - als ein Symbol für demokratische Freiheiten und Gleichberechtigung. Nicht in der Türkei, wo der 1. Mai in der Vergangenheit oft in einem Blutbad endete: Vor genau zwanzig Jahren wurden auf dem Taksim-Platz in Istanbul 37 Demonstranten von der Polizei erschossen. Auch in diesem Jahr schlug die Staatsmacht wieder gnadenlos zu: Mehr als 300 Demonstranten wurden verhaftet, über 100 erlitten schwerste Verletzungen. Schon Tage vor dem 1. Mai waren über 1.000 Menschen verhaftet worden, Gewerkschafter und Oppositionelle, von denen viele bis heute noch nicht wieder aufgetaucht sind. Ihre Angehörigen erhalten keine Bestätigung für die Verhaftung. Einige werden wohl für immer „verschwunden“ sein. 

Als sich die Demonstranten am Morgen des 1. Mai in Istanbul zu sammeln beginnen, da ist längst klar, daß es nach dem Willen der türkischen Staatsmacht kein friedlicher Tag werden soll. 20.000 Polizisten sind allein in Istanbul zusammengezogen worden. Das Heer der Uniformierten kontrolliert Passanten, Busse mit Demonstranten werden behindert.

Vor dem 1. Mai dieses Jahres hatten die staatstreuen türkischen Medien die Öffentlichkeit über das Fernsehen „vorbereitet“ - mit Szenen vom vergangenen Jahr. Damals waren drei Demonstranten von der Polizei erschossen, hunderte waren verletzt worden. Die Propaganda und die mit ihr verbreitete Angst zeigte Wirkung: Entgegen des innenpolitischen Klimas und den Erwartungen der Opposition hatte die Demonstrationsbereitschaft der Istanbuler deutlich nachgelassen: Mit mehreren hunderttausend Demonstranten war allein in Istanbul gerechnet worden, doch „nur“ knapp 100.000 beteiligten sich dieses Jahr. Die Zahlen aus anderen Landesteilen: Ankara - 40.000 - Izmir - 35.000 - Adana 10.000 - Mersin 10.000 - Diyarbakir - 3.000 und in anderen türkischen Städten - 15.000.

1. Mai in Istanbul 1997: Schon um 9 Uhr sammeln sich die ersten DemonstrantInnen auf der Autobahn E 5. Dorthin hatte die Polizei den Aufmarsch verlegt, nachdem für den traditionellen Demonstrationsort Taksim eine Genehmigung verweigert worden war - an diesem Ort waren vor genau 20 Jahren 37 Menschen im Kugelhagel der Polizei gestorben.

Die innenpolitische Situation in der Türkei wird seit Monaten bestimmt durch einen zunehmenden Protest breiter Bevölkerungsschichten gegen die Regierung von Necmettin Erbakan. Die Wut der Bevölkerung ist eine Folge der desolaten Verhältnisse in einem Land, das mit Macht in die Europäische Gemeinschaft drängt, um seine wirtschaftliche Probleme in den Griff zu bekom­men. Die Menschen leiden seit Jahren unter einer gallopie­renden Inflation von über 80 Prozent. Hinzu kommt, daß der Krieg im kurdischen Südosten kostet Jahr für Jahr tausenden von Menschen das Leben kostet, 3,5 Millionen vertriebene Kurden sind ständig auf der Flucht, fast 4.000 einst intakte Dorfgemeinschaften sind zerstört.

Was das Land jedoch in den Ruin treibt, sind die Kosten für den Krieg gegen die Kurden: Pro Jahr fast 9 Milliarden Dollar. Die Folge: Es gibt kaum noch intakte soziale Einrichtungen des Staates, die Dunkelziffer der Arbeitslosigkeit liegt bei fast 40 Prozent und fast 70 Prozent aller Familien leben von der Hand in den Mund.

Unterdessen müssen sich die DemonstrantInnen auf der Autobahn E 5 einer unwürdigen Leibesvisitation unterziehen: Alle werden durch ein Sperrgitter geschleust, abgetastet und muß anschließend durch ein Spalier von Polizisten laufen. Viele müssen ihr Hemd öffnen, werden geschubst, gestoßen, wieder zurückgerufen, nochmal durchsucht. Die Holzstangen von Transparenten und Fahnen werden beschlagnahmt, Fahnen mit kritischen Symbolen und Parolen an Ort und Stelle verbrannt. Wer protestiert, wird sofort geschlagen, abgeführt.

Angeheizt wurde die Stimmung im Lande nach einem Verkehrsunfall, der in der Türkei unter dem Stichwort „Susurluk“ bekannt wurde. Susurluk ist eine Kleinstadt nördlich von Izmir. Hier kamen am 3. November letzten Jahres ein hochrangiger Polizeioffizier, ein Mafia- und Drogenchef und seine Freundin ums Leben, als ihr PKW gegen einen LKW prallte. Mit ihm Auto saß eine Abgeordneter der DYP, der Partei von Außenministerin Tansu Ciller, die mit Erbakan eine Regierungskoalition bildet. Der Kofferraum des PKW war voller Waffen und Drogen.

Susurluk ist seither das Synonym für die Verbindung der türkischen Drogenmafia und der von ihr mitfinanzierten Konterguerilla zu hochrangigen Vertretern der türkischen Regierung und der Administration in fast allen Ministerien und Verwaltungsapparaten.

SUSURLUK - ein Autounfall wird zum Symbol

Der Protest der Bevölkerung gegen die Regierungskoalition und ihren Islamisierungskurs hatte seit diesem Zwischenfall in den vergangenen Monaten ein kaum noch kalkulierbares Ausmaß erreicht: Seit dem 1. Februar gehen an jedem Abend um 9 Uhr zwischen Istanbul und Diyarbakir in hunderttausenden von Haushalten die Lichter aus. "Eine Minute Finsternis für immerwährende Helligkeit" lautete die Aktion, die sich im Lande wie ein Lauffeuer verbreitete.

Die Polizei wurde deshalb angewiesen, nach "Provokateuren" Ausschau zu halten, die das Licht in ihren Wohnungen gezielt an- und ausknipsen. Inzwischen hat die Reaktion der Staatsmacht groteske Formen angenommen: Mehrere hundert Familienväter sitzen in den Gefängnissen ein, allein wegen des Vorwurfes, den Lichtschalter benutzt zu haben.

„Schweige nicht, sonst bist Du als nächster an der Reihe“ - diese Anspielung auf die staatliche Tolerierung von Todesschwadronen, wird mittlerweile von einer breiten gesellschaftlichen Bewegung getragen. War der Ausgangspunkt noch eine kleine Gruppe linker unorthodoxer Politiker, werben mittlerweile täglich Prominente, wie die „Königin“ des türkischen Kino, Türkan Soray, die Popsängerin Sezen Aksu ebenso wie der Literat Orhan Pamuk für die Aktion.[1]

Als kommunistische Gruppierungen auf die Polizeischleuse zusteuern, eskaliert die Situation: Weil sie am Weitergehen behindert werden, entschließen sich etwa 8.000 DemonstrantInnen zur Umkehr. Das ist für die Polizei das Signal, die Menschen regelrecht zu jagen, einzeln oder in Gruppen. Die Polizeikaktion ist generalstabsmäßig vorbereitet: Während die meisten DemonstrantInnen in den Nebenstraßen wie in einer Falle sitzen, dirigiert die Polzei ihren Gewaltausbruch über Hubschrauber.

Konflikt zwischen Regierung und Militär

Erbakan und mit ihm die Führung der islamistischen Refah-Partei haben seit dem Amtsantritt im vergangenen Jahr nichts unversucht gelassen, um ihren Einfluß auszubauen: Tausende von Posten in der Regierungsadministration und in den Behörden wurden mit islamistischen Anhängern besetzt, und selbst in der traditionell laizistisch, also religionsunabhängig, ausgerichteten Armee wollte Erbakan Fuß fassen.

Doch das mißlang gründlich: Zweimal in den letzten Wochen hat der Nationale Sicherheitsrat den türkischen Regierungschef davor gewarnt, seinen innenpolitischen Kurs der Islamisierung fortzusetzen, mit deutlichen Drohgebärden, die nur als Ankündigung eines Militärputsches verstanden werden konnten. Schon Anfang des Jahres waren über 60führende und islamisch orientierte Offiziere entlassen worden, ein deutliches Signal. Am 26. April schließlich, wenige Tage vor dem 1. Mai, gab der Nationale Sicherheitsrat einen letzten Warnschuß ab: Erbakan lenkte ein und gab vor laufenden Fernsehkameras die Zusicherung, daß die Islamisierung des Landes gestoppt werde. So mußte sich die Regierung Erbakan positiv zu einem Maßnahmekatalog bekennen: Die Erhöhung der Grundschulpflicht von fünf auf acht Jahre ist gleichbedeutend mit der Schließung zahlreicher staatlicher, religiöser Schulen. Auch die Korankunde soll eingedämmt werden.

Doch die Zusicherung Erbakans ist wenig glaubhaft: Korrespondenten nahezu aller westlichen Medien äußerten die Vermutung, daß Erbakan dennoch die Kraftprobe mit dem Militär suchen werde und daß der islamische Einfluß längst nicht mehr zurückgedrängt werden könne. Noch im März formulierte die nationalliberale Zeitung Hürriyet die Einschätzung: „In der Türkei beginnt eine Phase, in der die Armee den politischen Sieg der Islamisten auf Dauer nicht verhindern können wird. (...) Der Kemalismus hat uns von unseren Wurzeln, unserer Religion und unserer Geschichte entfremdet, Mustafa Kemal Atatürk, der ein autoritärer Soldat war, drängte die Türkei in eine Situation, in der sie Europa nachäffte. (...) Der Islam ist an die Stelle des Marxismus getreten und nichts, auch nicht die Armee, kann seinen Siegeszug aufhalten.“ [2]

Daß die Proteste der Bevölkerung eine Perspektive haben könnten, den Einfluß der islamischen Kräfte in der Türkei zurückzudrängen, ist keine unrealistische Einschätzung, aber angesichts der undemokratischen Verhältnisse entsteht eine außerordentlich unübersichtliche Situation. Das Zurückdrängen der islamischen Kräfte, das die Armee aus Selbsterhaltungsgründen tatkräftig unterstützen muß, um nicht noch mehr Einfluß zu verlieren, ist angesichts der breit getragenen Bewegung gegen die Regierung aber auch gefährlich für das Militäregime in der Türkei. Schon gibt es eine Auseinandersetzung im Unternehmensverband Tüsaid um die richtigen Konsequenzen aus dem Susurluk-Zwischenfall. Es gibt einen Bericht „Perspektiven der Demokratisierung in der Türkei“, der an das Parlament weitergeleitet werden sollte. In diesem Bericht stehen Sätze wie: „Eine dauerhafte Marktwirtschaft kann nur erreicht werden, wenn wir Kanäle für eine Versöhnung im öffentlichen Leben schaffen, eine breite Beteiligung der Bevölkerung am politischen Prozeß und eine pluralistische Struktur.“ Der Bericht verweist auf die dringende Notwendigkeit, daß der Staat mehr Achtung vor individuellen Freiheiten haben muß, das Pressefreiheit, religiöse Toleranz notwendig sind. Es wird gefordert, die Sicherheitsgesetze zu reformieren, die dem Staat freie Hand bei Repressionen schaffen.[3] Zudem soll das Militär zivil kontrolliert werden - denn es fungiert nach wie vor im Nationalen Sicherheitsrat als eine Art „Schattenkabinett“, dessen Entscheidungen sich ja jüngst auch wieder die Regierung Erbakan beugen mußte. Doch hier beginnt dann auch die neue Unübersichtlichkeit in der Türkei: Ohne eine Demokratisierung hat die breite gesellschaftliche Bewegung gegen die islamischen Fundamentalisten keine Chance auf grundlegende Veränderung der innenpolitischen Verhältnisse.

Letzte Meldung: Die Redaktionsräume der prokurdischen Zeitung DEMOKRASI in Istanbul sind am Abend des 2. Mai 1997 auf Grund eines richterlichen Beschlusses geschlossen worden. Die Sonnabendausgabe der Tageszeitung ist noch erschienen. Alle weiteren Ausgaben wurden zunächst für einen Monat verboten. Der Beschluß wurde vom 1. Istanbuler Staatssicherheitsgericht erlassen. Eine Begründung wurde nicht angegeben. DEMOKRASI hat angekündigt, daß Gerichtsurteil anzufechten. Die sozialistische Tageszeitung EMEK hat der Redaktion von DEMOKRASI solidarische Unterstützung angeboten. Unter anderem sollen die Artikel und Berichte der DEMOKRASI von EMEK veröffentlicht werden. Ach ja - das Verbot wurde ausgesprochen am Internationalen Tag der Pressefreiheit.

Peter Vogel, Journalist, Medienagentur für Menschenrechte mfm, Delmenhorst

Hans-Joachim Olczyk, Oldenburg

[1] ) Vgl. Ömer Erzeren: Erbakan und Ciller Rücken an Rücken. TAZ vom 21. Februar 1997. S. 9.

[2] ) Vgl. Der Kemalismus hat in der Türkei ausgedient. TAZ vom 4. März 1997. S. 15.

[3] ) Vgl. Für die  Demokratie in Ankara läuten die Alarmglocken. Handelsblatt vom 5. Februar 1997. S. 8.

 


Veröffentlicht in spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft.
Ausgabe 3/1997 (Heft 95 vom Mai/Juni 1997)


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