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Alice besucht Digital Natives im Wunderland. Oder: Shut Up!

Alice besucht digital Natives im Wunderland - oder: Shut Up.

Hat vielleicht jede Generation ein Stück Weltliteratur, welches besonders im Kopf bleibt – und wenn ja, warum? Wenn ich Google danach frage, bekomme ich leider keine Antwort, sondern nur Statistiken darüber, wie viele junge Menschen gedruckte Bücher lesen und welche nicht. Aber die Frage, warum ich mir die Handlung von Alice im Wunderland nicht merken kann, aber dafür unzählige andere Kinder- und Jugendgeschichten – diese Frage bleibt immer noch offen. Also war es gut, dass mein Sohn bei der Premiere am 09.06.2023 neben mir im Kleinen Haus saß, als wir unser die wunderbare Inszenierung von Alice im Wunderland durch die Musik-Theater-AG am Maxe angesehen haben.

Er kennt alle Figuren, wie man sie aus dem Roman und den Kinoadaptionen von Alice im Wunderland kennt. Alice ist dabei, der Hutmacher natürlich, die Grinsekatze, der Herzbube, das Kaninchen und viele weitere mehr. Welche großartige Leistung das Team vollbringt, versteht nur, wer ins Programmheft schaut: Viele mussten mehrere Rollen gleichzeitig spielen – also war zwischen den Szenen hinter der Bühne immer viel Arbeit zu erledigen: Umziehen, aber schnell, sich in die neue Rolle einfinden – und auf der Bühne mussten die Szenerien neu aufgebaut werden – da halfen dann immer alle, die gerade nicht hinter der Bühne gebraucht wurden. Eine perfekte Teamleistung – auch wenn es mal etwas länger dauertet, weil dann doch zwei Requisiten zu viel oder eine zu wenig auf der Bühne standen.

Alle Figuren wurden nicht eins zu eins übernommen, sondern dienten nur als Vorlage. Eines haben sie aber mit dem Original gemeinsam: sie sind alle etwas verrückt, unberechenbar, anstrengend oder liebenswert. Die fantasievoll und detailreich gestalteten Kostüme für jede Rolle sind perfekt auf die Schauspieler:innen und die Rolle hin geschneidert, genäht oder zusammengestellt worden.

Vielleicht konnte ich dem Stück auch besser folgen und es besser verstehen als das Original, weil die Schüler:innen das Stück verändert hatten. Der Klassiker von Lewis Carroll gehört zum Genre Nonsensliteratur – das hatte ich mittlerweile gelesen und in dieser Aufführung auch gemerkt – aber das grundlegende Verständnis für diesen Nonsens und den tieferen Sinn darin zu erkennen – das wird mir wohl nie so gut gelingen wie meinen Kindern – oder den Schauspieler:innen vom Maxe. Denn das mussten sie, um die so gelungene Adaption des Originals in die heutige Zeit. Wie Jugendliche den Platz in dieser Gesellschaft finden – so hieß es vor der Aufführung, sei der rote Faden in dieser Aufführung. Mit „Shut Up“ von The Black Eyed Pies gab das ganze Ensemble eine erste Antwort – waren die sog. „Erwachsenen“ im Saal die Zielgruppe dieses Songs? Oder eher die Gesellschaft, in die Schauspieler:innen nun mit jedem Jahr mehr hineinwachsen. Alice spielte ihre Rolle als sich selbst infragestellende Alice konsequent durch – und fand dann ihre Rolle als Gegenspielerin der roten Königin. Die rote Königin lebte in ihrer Rolle mehr und mehr auf. Der Gesangseinstieg mit „Red Means I Love You“ als Ausdruck einer inneren Unsicherheit war perfekt – und die Zuschauer:innen konnten sehen, wie sie mehr und mehr auch die Freude an ihrem Auftritt auf die Bühne und in ihre Rolle einbrachte. Mit dem Song „Bad“ drückt sie das gelungen aus: Sie nimmt die Herausforderung, hervorzustechen und anders zu sein, in ihrer Rolle perfekt an – und stärkt mit dem Song die Botschaft, dass man sich nicht ändern muss, um akzeptiert zu werden. Alle Songs reihten sich gut in die Handlung ein, die Darbietung war immer gelungen – und mutig. Besonders der Herzbube, gespielt von Ole Siemon, war gefordert, als er zugeben musste: „Ich brech` die Herzen der stolzesten Frau`n“. Ganz in der Art, wie Heinz Rühmann diesen Song gesungen hatte, schaffte er es auch, mit großem Selbstvertrauen doch Zweifel zu sähen. Und überhaupt: Für die nächste Aufführung wünsche ich mir ein Programmheft, in dem die Einordnung der Songs in das Theaterstück erläutert und eingeleitet wird – ob meine Bitte gelesen wird? Ob alle den zeitgeschichtlichen und aktuellen Hintergrund von „The White Rabbit“ verstanden haben – leider war der Text wieder mal nicht gut zu hören – und das lag nicht an der Hutmacherin. Am besten war für mich der Part von Alice (gespielt von Paula Seela), als sie zusammen mit der Hutmacherin (Julia Moldenhauer) mit großer Bühnenpräsenz und kraftvollem Gefühl und einfühlsamer Kraft „The Show Must Go On“ sangen.

Dieses und alle anderen Stücke sind von den Schauspieler:innen selbst ausgewählt worden. Durch die Aufführung wurden wir geleitet von den Zwillingen (gespielt Juliana Pregla und Seha-Enam Bastürk), die mehr und mehr während des Auftritts die Moderation zwischen Bühne und Publikum übernahmen. Perfekte Unterstützung gab es wieder vom Leitungsteam um Sylvia Köpke, Anders Becker und Timo Kreis, das ergänzt wurde von Katryn Michalzik (Kostüm und Bühnenbild) sowie Rainer Wittig (Ton). Meine persönliche Bitte an Rainer Wittig: Macht Druck dafür, dass die Musik des Orchesters, die fantastisch war, besser abgemischt werden kann mit den Gesangseinlagen – das muss doch technisch möglich sein. Die Delmenhorster Presse war übrigens nicht anwesend. Bei keiner Aufführung. Warum eigentlich nicht?

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