Made in Germany 21 | Taschenbuch: 576 Seiten | Verlag: Hoffmann und Campe (1. April 2004) | Sprache: Deutsch | ISBN-10: 3455104177 | ISBN-13: 978-3455104172
Der Sammelband „Made in Germany 21“ wurde und wird in den letzten Wochen aufwendig und vollmundig angekündigt: „48 AutorInnen, ein Thema: Innovation in Deutschland. Im Hamburger Hoffmann & Campe Verlag ist der Sammelband „Made in Germany '21“ erschienen, der Deutschlands Zukunftsfähigkeit unter die Lupe nimmt.“ Oder: "Made in Germany '21" ist ein Manifest für die technologische, soziale und kulturelle Erneuerung Deutschlands.“ – heisst es: Ein Manifest mit Analysen? Ein Manifest der Kritik ? Ein Manifest?
Starke Worte. Aber nach dem Aufschlagen des Sammelbandes überkommt einen die Langeweile. Woran liegts? Sind die Beiträge aus der letzten Tagung wiederaufgewärmt? Sind sie eine Zusammenstellung aus den Worten zum Sonntag der Gäste in der Sabine-Christiansen-Show? Fehlt der Bezug auf die aktuelle Debatte um Hartz IV?
Die mangelnde Sachkenntnis der einzelnen AutorInnen ist nicht die Ursache für das geistige Gähnen beim Lesen. Auch nicht die lexikale Schreibweise vieler Beiträge: Auch nicht die Tatsache, dass manche Texte eher wie Versatzstücke von Instituts-Homepages daherkommen. Trotz der vielen Informationen zu einzelnen Sachgebieten und der zum Weiterlesen dann hilfreichen Literaturliste.
Es fehlt das konsequente Weiterdenken.. So Rolf G. Heinze: „Das Kernproblem des deutschen Wohlfahrtsstaates liegt nach wie vor darin, dass in der Bundesrepublik zu wenig Arbeitsplätze vorhanden sind und das reale Wachstum an Arbeitsplätzen hinter vergleichbaren Ländern zurückbleibt.“ (Heinze, S. 565) Interessant, könnte man denken – um dann doch nur wieder mit dem erdrückenden Wissen um die Fakten in anderen Ländern und die Lage in Deutschland genervt zu werden: Was konkret getan werden müsste, um die Feststellung des „Kernproblems“ anzugehen, erfahren wir nur verquast und indirekt.
Verquast und indirekt, weil sich niemand traut, das zu (be-)schreiben, was hinter allem steht: Die reale Politik, die im Sammelband ihre geistige Reproduktion sucht und findet, ist doch, dass bei den unteren Schichten der Lohnabhängigen die soziale Sicherheit zurückgeschnitten wird. Dies führt selbst bei jenen besser situierten ArbeitnehmerInnen zu großer Verunsicherung – auch die Fluchtmöglichkeiten in private Absicherungsformen (kapitalgedeckte Versicherungen und Vermögensanlage) helfen da nur wenig.
Dies hätte das zentrale zentrale Thema des Sammelbandes sein können: Wie sieht das Leben konkret aus, wenn die gedachten und beschrieben Entwicklungswege die Menschen erreichen. Mathias Machnig deutet es an: "In den nächsten Jahren werden wir auf marktwirtschaftlicher Grundlage ein Comeback des wirtschaftlich gestaltenden Staates in einer neuen, intelligenteren Form erleben“.(Machnig, S. 32) Und: “Die gegenwärtigen Sozialreformen werden von den Zielsetzungen der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte sowie der Lohnnebenkostenentlastung der Unternehmen geleitet. Dies sind zweifelsohne wichtige Rahmenbedingungen. Den Sozialstaat auf die Anforderungen der Wissensgesellschaft auszurichten, heißt aber in erster Linie, Selbständigkeit und Eigenverantwortung zu stärken. Kerngedanke eines aktivierenden Sozialstaates ist es, die Menschen zur eigenständigen Gestaltung der Biographie zu befähigen. Dies bedeutet, überholte Sicherheiten infrage zustellen, aber auch, unter den Flexibilitätsanforderungen der Wissensgesellschaft neue Sicherheiten zu bieten. Das Leitbild des männlichen Beschäftigten im Normalarbeitsverhältnis und die Möglichkeit der Nachahmung von Biografien der eigenen Eltern verlieren an Gütigkeit. Die Lebensführung von flexiblen Wissensarbeitern und ihrer Familien ist eine andere als die von Arbeiter- und Beamtenfamilien der Nachkriegszeit. Die Stichwort „Flexicurity“ deutet an, in welche Richtung sich ein innovationsorientierter Sozialstaat bewegen muss." (Machnig, S. 38)
Die Botschaft ist dabei klar und deutlich: Fassbrause für alle hat Machnig mal gefordert. „Die Agenda 2010 kann zwar mittelfristig entlastende Effekte für die Sozialkassen haben und Wachstum stimulieren, eine Lösung der Probleme dieses Landes wird sie nicht bringen.“ (Machnig, Aufforderung zur Häutung, 2003). Die Agenda 2010 mit ihren Streichungen und Kürzungen will gar nicht den Bundeshaushalt sanieren. Sondern die Haltung der Menschen verändern; ihnen signalisieren: Hilf’ Dir selbst. Genau dies macht die Lebens- und Realitätsferne der derzeitigen Regierungspolitik ja aus: Es gibt den Glauben an eine Änderung der ökonomischen Basis, wenn sich in den Köpfen der Menchen erstmal ein neues Leitbild durchgesetzt haben wird. Wirtschaftspolitik? Strukturpolitik? Investitionen? Nicht nötig. Kommt alles von selbst. Erstmal die Innovation in den Köpfen. Der Rest entwickelt sich dann schon. Bis dahin braucht Politik nur die Veränderung der Wirklichkeit zu beschreiben – und sich darauf beschränken, das „Vermittlungsproblem“ zu lösen. Denn die Menschen sollen einfach nur begreifen, dass sie sich jetzt von „überholten Sicherheiten“ verabschieden sollen.
Dazu Weidenfeller: „Innovation muss dabei mehr sein als ein ideologisch besetzter Kampfbegriff oder ein seelenloses politisches Programm. Innovation muss zur geistigen Orientierung werden und darf nicht Furcht oder Lähmung auslösen. Viele neuere Studien zeigen hierbei auf: Deutschland ist führend bei den Ängsten seiner Einwohner. Das müssen wir durchbrechen. Wir brauchen eine positive Lebensphilosophie, etwas Neues zu wagen und zu schaffen.“(Weidenfeller, S. 85.)
Der Tipp des Sammelbandes lautet also: Habe keine Angst – alles wird gut. Angst ist aber keine keine individualpsychologische Kategorie, die sich wegdiskutieren lässt. Angst wird nicht die Basis sein für Innovation – produktive Individualität braucht eine solidarische Regelung von sozialer Sicherheit und Bildung. Es ist falsch anzunehmen, eine qualitativ höhere Stufe der Eigenverantwortung für sich und zu erneuernde gesellschaftliche Strukturen wäre zu erreichen, indem man die bisherigen Formen der sozialen Sicherheit einfach abschafft.
Veröffentlicht in Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft spw, Heft 140 (November/Dezember 2004).
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