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Die Treppe wird von oben nach unten gekehrt

Oder: Die IG Metall zwischen Sparpolitik und Erneuerung

Haben die europäischen Gewerkschaften das schon hinter sich, was den bundesdeutschen noch bevorsteht? Die Zahlen sprechen eine sehr deutliche Sprache: Der englische Gewerkschaftsdachverband TUC verlor von 1979 bis heute von damals 12 Millionen Mitgliedern 40 Prozent. Die kommunistische CGT in Frankreich verlor in den letzten zehn Jahren 60 Prozent.

In den letzten Jahren haben die Gewerkschaften aber nicht nur Mitglieder verloren. Die Defensive der IGM zeigt sich auch in der Entwicklung der Lohnabschlüsse in den letzten Jahren. In diesem originären Bereich gewerkschaftlicher Arbeit, nämlich der Sicherung der Einkommen der Beschäftigten, mußten - trotz der entsprechenden Wehklageschreie der Unternehmensverbände über zu hohe Tarifabschlüsse - empfindliche Einbußen hingenommen werden. In aller Kürze: 1994 gab es zwar eine Erhöhung von 2 Prozent, aber gleichzeitig eine Verringerung der betrieblichen Sonderzahlungen (zu deutsch: Weihnachtsgeld) um 10 Prozent. Auch das Urlaubsgeld wurde um 10 Prozent gekürzt bzw. die tariflich schon vereinbarte Steigerung verschoben. Auch in 1995 gab es zwar eine deutliche Erhöhung von 3,8 Prozent sowie eine weitere Erhöhung im November von 2,1 %. Zusammen mit der Einführung der 35-Stunden-Woche im Volumen also eine Verbesserung zu den Vorjahren. Auch wenn es nie Ziel von Tarifpolitik war, die Belastungen aus staatlichen Abgaben ausgleichen zu wollen - unter dem Strich gleicht auch dieser Abschluß die gestiegenen Lebenshaltungskosten sowie den sog. Solidarbeitrag und die Pflegeversicherung nicht aus.

 

In den fünf neuen Bundesländern ist 1993 der schon einmal vereinbarte Tarifvertrag erst durch einen Streik wieder in Kraft gesetzt worden. Die Angleichung der Löhne und Gehälter auf 100 Prozent Westniveau konnte gesichert werden - zum Preis einer zeitlichen Verschiebung. Zu bedenken ist: Im Osten arbeiten die Beschäftigten wöchentlich länger (jetzt 39 Stunden pro Woche - ab 1996 dann 38 Stunden) und es gibt weniger an Weihnachts- und Urlaubsgeld.

"Klaus Zwickel hat gesagt, daß das Tun der Arbeitgeber ein Rückfall in den Kapitalismus ist. So ist er jedenfalls in der Frankfurter Rundschau zitiert. Wo lebe ich denn? Da waren wir doch schon dauernd. (Beifall) Der Prozeß, der jetzt organisiert wird, ist ein Rückfall in den Manchester-Kapitalismus. Mit diesen Ursachen werden wir uns auseinandersetzen müssen.(Beifall)"[1]

Ein Tarifvertrag ist das Ergebnis eines gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses. Die Situation der IGM, keine Einkommenserhöhungen durchsetzen zu können, ja sogar dafür streiken zu müssen, um bestehende Tarifverträge wieder in Kraft treten zu lassen, macht deutlich: Das Wort "Defensive" trifft zu, ja beschönigt die Situation geradezu.

... Mitgliederverluste ...

Die quantitative Situation der IGM läßt sich wohl am deutlichsten dadurch beschreiben, daß monatlich (!) eine mittelgroße Verwaltungsstelle "verlorengeht". In Zahlen ausgedrückt: Noch Ende 1991 gab es 3,6 Millionen in der IGM - heute sind es "nur" noch 2,9 Millionen. Damit ist die IG Metall zwar immer noch die größte Gewerkschaft in der BRD (und auch immer noch - seit 1966 - die größte der sog. westlichen Welt.)

Der zahlenmäßige Verlust erhält eine besondere Brisanz, weil die Zusammensetzung der Mitgliedschaft sich parallel dazu verändert. Die für die Finanzkraft der Organisation so wichtigen "aktiv Beschäftigten", also im Berufsleben stehende Mitglieder reduzierten sich seit 1991 von damals 81,2 auf heute nur noch 68,4 Prozent.[2] Die Folge: Die Finanzkraft der IGM verändert sich so schnell, daß nur durch sog. Sparkonzepte der Mitgliederverlust finanziell aufgefangen werden kann. Die IGM Metall kann zudem die Verluste von Mitgliedern dort nicht mehr auffangen, wo sie traditionell stark ist, weil diese Bereiche der Metallwirtschaft den stärksten Arbeitsplatzabbau zu verzeichnen haben. Dagegen steigt der Anteil der Beschäftigten in den Berufsgruppen, wo die IGM traditionell eher schwach ist. Dabei bleibt die Verringerung der Mitgliederzahl insgesamt geringer als der Rückgang der Beschäftigtenzahl - der Organisationsgrad sinkt also nicht. Der Anteil der Arbeitslosen in der IGM ist von 5 % in 1991 auf 12,2 % in diesem Jahr gesteigen.

... Mitgliederzusammensetzung ...

Die zahlenmäßige Entwicklung ist aber nicht allein auf den Abbau von Arbeitsplätzen zurückzuführen. In der derzeitigen Situation verschärfen sich offensichtlich strukturelle Mängel, die in den Jahren zuvor überdeckt worden sind.

Dazu einige Erläuterungen aus einer von der IGM in Auftrag gegebenen Analyse: Die Mitglieder in der IG Metall sind bemerkenswert älter als die abhängig Beschäftigten insgesamt. Dies betrifft Arbeiter/innen und Angestellte zusammen.[3] Bei den Arbeitern und Arbeiterinnen besteht ein deutliches Organisationsdefizit in der Gruppe der bis zu 25jährigen. Dies ist u.a. zu erklären dadurch, daß bisher die Mitgliederwerbung in der Form der Organisierung der Neueingestellten erfolgte - in Zeiten des ständigen Arbeitsplatzabbaus eine Zuwachsrate, die gegen Null läuft.

Bei den Angestellten besteht aber ein deutliches Organisationsdefizit bis in die Altersgruppe der 40jährigen. Die Gruppe der Angestellten ist mittlerweile mit 42,8% die größere in der klassischen Unterteilung Arbeiter, Angestellte und Beamte.

Zudem ist ein besonders starkes Defizit bei der Organisierung im Bereich der jüngeren Frauen feststellbar. Hinsichtlich des frauenpolitischen Profils der IGM war der Gewerkschaftstag in Berlin innerorganisatorisch eine große Enttäuschung: Von den Medien eher unbeachtet blieb die Auseinandersetzung um die Einführung einer verbindlichen Frauenquote in der Satzung der IG Metall. Der Frauenausschuß beim Vorstand hatte beantragt, folgende Passage in die Satzung aufzunehmen: "In allen Gremien der IG Metall müssen Frauen entsprechend dem Mitgliederanteil [zur Zeit ca. 18%] vertreten sein." Der Antrag verfehlte knapp die 2/3-Mehrheit, so daß nun statt der Muß-Bestimmung eine Soll-Bestimmung in der Satzung steht. Die Argumentation des Vorstandes: Es bestünden rechtliche Bedenken gegen eine Muß-Formulierung.

"Organisationsentwicklung" und "Mitgliederentwicklung"

Das Projekt "Mitgliederentwicklung - ME" sollen nun all diesen Tendenzen in Sachen Mitgliederverlusten und Mitgliederzusammensetzung etwas Entscheidendes entgegenstellen. Zudem soll durch das Projekt "Organisationsentwicklung - OE", von einigen auch zynisch-scherzhaft als "OffenbarungsEid" bezeichnet, den Verkrustungen in der IGM zu Leibe gerückt werden.

Denn sollte für die IG Metall auch nur im Ansatz das gelten, was in Studien über gewerkschaftliche Kommunikationsstrukturen analysiert wurde, könnte es - zumindest dem Anschein nach -schlimmer nicht sein. "Man beanspruche für sich einen privilegierten Wahrheitszugang, arbeite mit einer Treue- und Verratsideologie und nehme sich in dauerhfter Kampfstimmung zuwenig Zeit zum Lernen" heißt es in einem Beitrag der Zeitschrift Mitbestimmung.[4]

Mobilisierung der Mitglieder

Es sollen nicht nur die Strukturen der innergewerkschaftlichen Arbeit den neuen Anforderungen entsprechend entwickelt werden, sondern die IGM will die einzelnen Mitglieder "in Bewegung bringen". Auch dazu wurde eine Analyse des IST-Standes gemacht: Etwa ein Viertel der erwerbstätigen Mitglieder der Organisation kann als Stütze für Aktivitäten und Aktionen angesehen werden. In diesem Viertel ist der Anteil der Angestellten, der Frauen und der Auszubildenden sehr niedrig. Relativ problemlos mobilisierbar für zentrale Aktionen ist ein weiteres Viertel. Zwanzig Prozent sind kaum zum Mitmachen zu bewegen, dreißig Prozent sind total passiv.

Das Ziel der Mobilisierung der Mitglieder, das Aufgreifen der individuellen Lebensstile, die bewußte Herangehensweise an sich ändernde gesellschaftliche Strukturen ist in der Diskussion um die Neuorientierung der IG Metall-Arbeit sicherlich lobenswert, wenn nicht sogar einzigartig. Denn es passiert ja eben nicht das, was in vielen Großorganisationen sonst gemacht wird bzw. gemacht wurde, bis sie eben keine mehr waren. Die Gewerkschaft wird eben nicht gegen Kritik immunisiert. Die Kritik wird nicht an die Mitglieder zurückgegeben, indem man deren Passivität als das eigentliche Problem darstellt. Es wird auf die Veränderungen in der Gesellschaft und die sich daraus ergebenden Unzulänglichkeiten der Organisation nicht mit dem "klassischen" herorischen Appell geantwortet. Damit wird ein entscheidender Fehler nicht gemacht, der in vielen anderen Organisationen zutreffend ist für das Verhältnis zwischen Funktionären untereinander und das Verhältnis von Funktionären zu Mitgliedern.[5]

Ein (Das?) Mittel, um gegen den drohenden Verlust von Mitgliedern und damit auch Einfluß anzugehen, ist die Mobilisierung derjenigen, die in den Betrieben und Verwaltungen wohl immer noch das beste Werbemittel sein könnten: Die eigenen Mitglieder, die als Interessenvertreter/innen rüberbringen sollen, wozu eigentlich heute eine Gewerkschaft noch gebraucht wird. "Wenn wir die IG Metall nicht ändern, werden wir eine Organisation sein, die hinter der Zeit herläuft. ... Für viele Mitglieder ist die Arbeitsweise nicht mehr durchschaubar, überkommene Hierarchien erregen Anstoß, in Detailfragen zerstritten, zersplittert sich die Organisation. Es ist richtig: Unsere Bürokratie wird zum Hemmschuh."[6]

Sparpolitik: Die Treppe wird von oben nach unten gekehrt[7]

Bei all den Aktivitäten bleibt somit aber ein Problem bestehen: Die laufenden Projekte werden erst mittelfristig Wirkung zeigen. Bis dahin plant die Organisation unter negativen Vorzeichen: Sparen heißt die Devise. Als Zeichen für die Mitglieder wurde auf dem Gewerkschaftstag die Verkleinerung der geschäftsführenden Vorstandes beschlossen. Quasi als Zeichen - auch auf der Vorstandsebene wird gespart.

Diese Politik des Sparens birgt viele Konflikte in sich. Unklar scheint es immer noch zu sein, ob das Sparen mittlerweile ein Wert an sich ist, oder ob es mit einer neu strukturierten Organisation zu einem effizienten Einsatz knapper Mittel kommen soll. "In den zur Zeit geführten Spar- und Organisationsstrukturdebatten gewinnen alle bisher verdrängten Probleme wie 'Anonymität der Zentrale', 'Zentralisierung', 'Dezentralisierung', 'Transparenz der Entscheidungen' und 'Mitgliederbeteiligung' erneut an Aktualität."[8]

Die Diskussion dieser Bereiche mündet mittlerweile in eine breit angelegte Debatte über die Neuverteilung der Aufgaben zwischen den einzelnen Ebenen. Bei aller Unterschiedlichkeit in den einzelnen Veränderungsschritten läßt sich zumindest eine große Übereinstimmung in der Erwartungshaltung festhalten: Unter Neuverteilung der Aufgaben stellen sich immer auch alle Beteiligten eine Entlastung vor. Für alle soll weniger Arbeit und mehr Effektivität herauskommen.

Weniger Arbeit und mehr effektivität heißt auch, daß einige Bereiche in Zukunft nicht mehr von der IG Metall selbst erledigt werden sollen. Es wird überlegt, bestimmte Serviceleistungen auszugliedern oder neue Serviceleistungen anzubieten, die die Attraktivität der Gewerkschaft erhöhen sollen.

Sparen durch Rückzug aus der Fläche?

Aber: Viele befürchten, daß der Wegfall von bisherigen Funktionen in den Verwaltungsstellen die IGM vor Ort schleichend in die Bedeutungslosigkeit führt, wenn folgende Einschätzung stimmen sollte: "Der Mitglieder- und Vertrauensverlust kann nur dort aufgearbeitet werden, wo die Probleme entstehen, dort, wo gestaltet, wo Druck ausgeübt, wo die Angst als Disziplinierungspeitsche geschwungen wird. Dieser Ort ist der Betrieb, ist die Verwaltungsstelle mit ihrer Betriebs- und Problemnähe."[9]

Die Konzepte sehen bisher aber so aus: Zur besseren Organisation, zur Schaffung sog. "Synergien" werden dezentrale Einrichtungen wie die Verwaltungsstellen zusammengelegt, wenn sie finanziell zu "teuer" werden. Die betroffenen Verwaltungsstellen fordern natürlich den Erhalt, weil für die Mitglieder - in der Fläche gesehen - eben die örtliche Ansprechmöglichkeit auch die Identifikation mit der Organisation bedeutet. Die Erhaltung einer Verwaltungsstelle ist aber nur möglich bei steigenden Mitgliedszahlen. Die Mitgliedszahlen zu steigern geht aber nur, wenn in der Fläche die zentrale "Organisationsreserve" angegangen wird: Die Betreuung der Klein- und Mittelbetriebe, wo im Metallbereich ein Großteil der Beschäftigten arbeiten. Eine so intensive Betreuung ist aber nur möglich, wenn die Verwaltungsstellen durch Bezirke und den Vorstand von Funktionen entlastet werden bzw. wiederum mehr und nicht weniger Personal vorhanden ist.

Die IGM als ein "Unternehmen", welches ein neues Konzept sucht, kommt an diesem Punkt eine schwierige Phase. Denn die notwendigen Reformen können aus Kostengründen eben nicht so umgesetzt werden, daß eine weitere Dezentralisierung der Organisation erfolgt, die eben über größere Einflußmöglichkeiten der einzelnen Mitglieder quasi automatisch mehr "Leben" in die Organisation bringt, die dadurch mehr Ausstrahlung gewinnt.

Angst vor der Erneuerung?

Die ersten Entscheidungen zu diesen und weiteren Problembereichen der OE werden auf einem außerordentlichen Gewerkschaftstag in ca. 2 Jahren entschieden. Zu komplex sind die Fragen und zu unterschiedlich die Auffassungen in der IGM, als daß schon auf diesem Gewerkschaftstag eine Entscheidung möglich gewesen wäre.

Die Skepsis gegenüber dem OE-Projekt ist aber nicht nur auf die Form dieser Bemühungen, Geld zu sparen, begründet. Denn die Negativzusammenfassung der Folgen von Einnahmeeinbußen und Sparpolitik heißen Personaleinsparungen und die Tendenz des Rückzugs aus der Fläche durch Zusammenlegung von Verwaltungsstellen.

Eine weitaus größere Befürchtung besteht aber darin, daß durch die räumliche Entfernung von den Mitgliedern auch eine schleichende inhaltliche Entfernung von den Grundlagen der IGM-Politik einhergehen könnte: Die Propagierung der Modernisierung der -Gewerkschaft, so die Befürchtung, öffnet ein Einfallstor für diejenigen, die immer schon den Markt und die kapitalistische Wirtschaftsordnung bejaht haben, und diejenigen, die wollen, daß die kapitalistische Gesellschaft als alternativlos erscheint.

"Die deutschen Gewerkschaften haben ihren Frieden mit der Marktwirtschaft gemacht. Auch sie setzen auf die innovative Funktion von Markt und Unternehmertum. Sie haben erreicht, daß die Arbeitnehmer in Deutschland in besonderem Maße in ihren Unternehmen mitbestimmen, aber auch mitverantworten, und daß sie einen Anteil an den Früchten der Sozialen Marktwirtschaft haben. Damit haben sie zugleich wesentlich zur Identifikation der Arbeitnehmer mit unserem Staat beigetragen."[10]

Die Befürchtung ist ebenso, daß die Gewerkschaften in Zukunft die Konkurrenz- und Wettbewerbsfähigkeit als ausschließlichen Ausgangspunkt ihrer Aktivitäten und Überlegungen akzeptieren. Diese Fragestellung zieht sich durch alle Debatten über die Zukunft der IGM: Gibt es Ansatzpunkte für eine Gewerkschaftspolitik für die in den Betrieben "verbliebenen" und weiterhin von Arbeitslosigkeit, Fremdvergaben, Abteilungs- oder Betriebsschließungen bedrohten sog. "Stammbelegschaften", die nicht die "Standortlogik" zur Grundlage hat, sondern grundsätzlich eine Interessenvertretung darstellt für diejenigen, die auf abhängige Arbeit zur Sicherung des Lebensunterhaltes angewiesen sind?

Mobilisierung wofür?

Beschäftigte fragen bei der Einführung neuer Führungsmethoden im Betrieb, was für sie herausspringt, wenn sie mehr Verantwortung übernehmen sollen durch Gruppenarbeit und KVP. Die Mitglieder in der IG Metall werden ebenso fragen, wozu sie sich mehr engagieren sollen, was ihnen das bringen soll. Und all diejenigen, die noch eintreten sollen, werden sich ebenso fragen, warum sie dies tun sollen. Die entscheidende Frage lautet also: Wie kommt die IGM aus der tarifpolitischen und gesellschaftspolitischen Defensive heraus?

Zwar hat der Vorstand der IGM zum Gewerkschaftstag bekanntgegeben, daß in 1995 schon 40% mehr neue Mitglieder (insgesamt sind es 80 000) geworben wurden als in 1994 - aber der Rückgang der Mitgliederzahlen konnte eben nicht gestoppt werden: Es ist klar, daß die Mitgliederentwicklungs- und Organisationsentwicklungsprojekte zusammen mit dem Ergebnis der Tarifrunde 1995 nicht schon allein genügend Motivation bringt, den Aufbruch zu schaffen, den die IG Metall braucht.

Die zentrale Frage in der Entwicklung der IG Metall ist die, ob Gewerkschaften auch zukünftig Kampforganisationen sein wollen und sein können - oder ob sie sich damit abfinden wollen (oder müssen?) mehr und mehr als Service-Einrichtung für Mitglieder zu fungieren.

Der Versuch der IGM, mit dem vorgeschlagenen "Bündnis für Arbeit" genau dieses Problem der Verbindung von Interessenvertretung und Gesellschaftspolitik hinzubekommen, wird denn auch genau so unterschiedlich beurteilt, wie die oben geschilderten Grundpositionen nun eben mal sind.

"Es gilt, einen Energiekonsens zwischen Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften herbeizuführen. Er soll die Basis der heimischen Kohle sichern. Er muß am beschlossenen aussteig aus der Kerneneergie festhalten! (Beifall) Ich werbe für die Einspraung von Energie, den Ersatz von endlichen durch erneuerbare Energieträger, insbesondere für den Ausbau der Sonnenenergie!" - Klaus Zwickel

Die Skeptiker befürchten, daß überall dort, wo die Belegschaften und die Betriebsräte durch drohenden Arbeitsplatzabbau und gewerkschaftliche Organisationsschwäche ohnehin schon in der Defensive sind, nun durch den Vorschlag von Klaus Zwickel noch mehr unter Druck geraten: Denn laut klatschten die Unternehmensverbände Beifall, daß nun endlich der Zusammenhang von zu großen Lohnsteigerungen und Arbeitsplätzen anerkannt werden würde.

Was aber ist denn nun der Vorschlag der IG Metall?

Bündnis für Arbeit

"Wenn die Unternehmen der Metallverarbeitung garantieren, in den nächsten drei Jahren auf betriebsbedingte Kündigungen zu verzichten, 300.000 zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen, außerdem 30.000 Langzeitarbeitslose einzustellen sowie die Zahl der Ausbildungsplätze um jährlich fünf Prozent zu steigern und wenn die Bundesregierung verbindlich erklärt, bei der Novellierung des Arbeitsförderungsgesetzes auf die Kürzung des Arbeitslosengeldes und der Arbeitslosenhilfe zu verzichten und die Sozialhilfekriterien nicht zu verschlechtern, eine Regelung zur Gewährleistung des Ausbildungsplatzangebotes entsprechend der Nachfrage zu schaffen, Betriebe, die nicht oder zuwenig ausbilden, zum Lastenausgleich heranzuziehen, dann werde ich mich dafür einsetzen, in 1997 Einkommenssteigerungen zu vereinbaren, die sich am Ausgleich der Preissteigerungen orientieren, und befristete Einarbeitungszuschläge für Langzeitarbeitslose zu ermöglichen."[11]

Natürlich ist es den Langzeitarbeitslosen gegenüber problematisch - auch angesichts der früheren deutlichen Absagen in diese Richtung - über ihre Köpfe hinweg darüber zu verhandeln, daß sie nun für weniger als ihre Kolleginnen und Kollegen arbeiten sollen.

Trotz der öffentlich geäußerten Wunschvorstellungen der Unternehmerverbände ist es aber nicht so, daß die IGM bereit wäre, auf etwas zu verzichten. Sondern zuerst muß in 1996 konkret nachgewiesen werden, daß z.B. neue Arbeitsplätze geschaffen worden sind. Dies alles soll auf einer vertraglichen Grundlage geschehen, damit die Verbindlichkeit für beide Seiten gegeben ist.

Mittlerweile widersprechen sich die unterschiedlichen Gruppierungen auf der Gegenseite in der Öffentlichkeit. So erklärt das Bundeswirtschaftsministerium, es könne nicht viel für die Umsetzung des Vorschlages tun, während sich der Arbeitgeberpräsident positiv zu dem Vorschlag äußert.[12]

"Ich halte das Drei-Liter-Auto für ökologisch sinnvoll und technisch machbar. Und zwar jetzt!" - Klaus Zwickel

Wichtig ist bei all dem aber sicherlich, daß der Vorschlag der IGM dazu führt, daß die öffentliche Debatte über ein konkretes Sachthema (Schaffung von Arbeitsplätzen) geführt werden muß, und endlich die unsägliche Debatte darüber beendet wurde, daß die IG Metall mit ihren starren Tarifverträgen die Flexibilität der Unternehmen einschränken würde. Die Verbindung der programmatischen Aussage, daß zukünftig in Tarifverträgen geregelt werden soll, daß Mehrarbeit durch bezahlte Freizeit ausgeglichen werden soll, ist Bestandteil der jetzt stattfindenden Gespräche. Auch zu diesem Punkt gibt es natürlich kritisch-skeptische Meinungen: Angesichts von 234 Millionen Überstunden allein in der Metallwirtschaft ist das Vorhaben, Arbeitszeitmodelle unter dem programmatischen Ausdruck der "Zeitsouveränität" für die Beschäftigten herauszuholen, sicherlich nicht einfach. Denn gerade mit dem Zeitpunkt der Einführung und Umsetzung der 35-Stunden-Woche scheint sich immer mehr abzuzeichnen, daß längst viele, viele betriebliche Modelle der Arbeitszeitregelungen weit über das hinausgehen, was eigentlich durch den Tarifvertrag geregelt sein sollte.

Ausblick?

Zur Zeit laufen die ersten Gespräche über diesen Vorschlag auf der Ebene der für Tarifpolitik verantwortlichen Bezirke. Ein Ergebnis gibt es noch nicht. Auf jeden Fall werden die Arbeitgeberverbände sich fragen lassen müssen, was sie denn nun tun wollen, um langfristig etwas für mehr Arbeitsplätze zu erreichen.

Die politische Bedeutung vom "Bündnis für Arbeit" wird seine ganze Brisanz erst in 1996 entfalten können. Vielleicht ist die Frage zu stellen, welche Bundesregierung in welcher Zusammensetzung denn gemeint war, mit der der weitere Sozialabbau verhindert werden soll. Auf jeden Fall wird die vorgetragene Idee und die sich daraus ergebenden Verhandlungen aufschlußreich darlegen, welche gesellschaftspolitischen Spielräume zwischen Arbeit und Kapital in der BRD noch bestehen: "Die Beurteilung des Erfolges wirtschaftlicher Prozesse allein nach Gewinn und Umsatzwachstum erweist sich immer mehr als ein Kurs, den wir im Interesse einer gesellschaftlich, sozial und ökologisch verträglichen Entwicklung korrigieren müssen. Ich habe den Eindruck, daß auf dieser relativ abstrakten Ebene ein breiter Konsens existiert oder hergestellt werden kann, der sich aber bei der konkreten Bearbeitung des "was" und des "wie" schnell in Luft auflöst."[13]

Genau diese Ausdifferenzierung scheint durch den konkreten Vorschlag nun möglich - die Auseinandersetzungen zwischen dem Standortblock und dem Reformblock innerhalb der Parteien wird eine Vorentscheidung für das Ergebnis der nächsten Bundestagswahlen bilden.

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[1]) K. H. Schönberger, Protokoll 18. Gewerkschaftstag, S. 193.

[2]) Vgl. Mitgliederstatistik der IG Metall, Stand Oktober 1995.

[3]) Vgl. Smid, Menno: Schwächen der IG Metall. Standpunkt 2/95. S. 15. Die weiteren Angaben zur Mitgliedszusammensetzung sind aus diesem Artikel entnommen.

[4]) Rainer Zech: Im Selbstgespräch zur Stagnation. In: Mitbestimmung 2/95, S. 55 f.

[5]) Vgl. Zech, S. 55 f.

[6]) Vgl. Frank Teichmüller, Bezirksleiter IGMetall Bezirk Küste. In: Emder Zeitung vom 28.5.1994.

[7]) Klaus Zwickel, Protokoll des 18. Gewerkschaftstages. S. 212.

[8]) Vgl. Hans Preiss: Anspruch oder Wirklichkeit? - Mitgliederbetieligung und Organisationsentwicklung. In: Sozialismus - Forum Gewerkschaften 2/95. S. 42.

[9]) Vgl. Hans Preiss, a.a.O.S.43.

[10]) Vgl. Roman Herzog, Ansprache auf dem Gewerkschaftstag, Protokoll 18. Gewerkschaftstag, S. 15.

[11]) Klaus Zwickel: Grundsatzreferat, Protokoll 18. Gewerkschaftstag, S. 273.

[12]) Vgl. Gottschol will Bündnis für Arbeit. In: Handelsblatt vom 22.11.1995. S 1 und S. 5.

[13]) Walter Riester, Die Zukunft der Arbeit - Die neue Rolle der Gewerkschaften. In: Arbeit der Zukunft - Zukunft der Arbeit. Hg.: Alfred-Herrhausen-Gesellschaft für Internationalen Dialog. Stuttgart: Schäffer-Poeschel. 1994. S. 182.



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